Berliner Zeitung

25.02.2013
Russland-Festival
Witz, aus Schrecken geboren
MARTIN WILKENING

Das Russland-Festival im Konzerthaus ging zu Ende
Wer vom Komponisten Vsevolod Zaderatsky nie gehört hat, dem hilft auch die Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ nicht weiter. Am besten geht man ins Konzerthaus zu Jascha Nemtsow, der als Pianist und Musikwissenschaftler das Interesse an dem 1953 in Lwiw gestorbenen Komponisten entfacht hat – und es ist mehr als eine nebensächliche Pointe, dass er selbst 1963 in Magadan, jenem Ort im äußersten Osten Sibiriens geboren wurde, an dem Zaderatsky ab 1937 im Gulag zwei Jahre seines an Schrecken reichen Lebens verbracht hatte.

1915 war der junge Musiker der letzte Klavierlehrer des Zarewitsch geworden. Der Hinrichtung der Zarenfamilie und ihres Personals entkam er nur, weil er an die Front abkommandiert wurde. Der Krieg ging für ihn als Weißgardist weiter, sein Klavierspiel rettete ihm nach der Gefangennahme das Leben. Bis 1926 lebte er, ohne die Rechte eines Sowjetbürgers, in Moskau, dann steckte man ihn für zwei Jahre ins Gefängnis und vernichtete all seine Kompositionen. Später war er Mitglied des Komponistenverbandes, nur damit dieser ihm sämtliche Aufführungen verbieten konnte. Mitte der Dreißiger entstanden die 24 Präludien, die Jascha Nemtsov auf CD eingespielt hat und jetzt in der Reihe „2x hören“ vorstellte. Es sind kurze, fassliche Stücke, die man nicht unbedingt zweimal hören muss, um ihnen folgen zu können. Die im Ansatz traditionelle Organisation von Begleitung und Melodie löst sich darin auf mitunter surreale Weise auf ; hartnäckig wiederholte Begleitfiguren werden selbst zur Hauptsache, Melodien fragmentieren sich.

Jascha Nemtsow artikulierte die Spannungen zwischen linker und rechter Hand beim ersten Mal heftiger, während beim zweiten Mal alles ausgeglichener, auch konventioneller klang. Eine Strategie, um bei der ersten Präsentation auf keinen Fall das Eigenartige dieser Musik unter den Tisch fallen zu lassen ? Während die Stücke in ihrer Brüchigkeit, dem gewitzt schrägen Umgang mit traditionellen musikalischen Erzählelementen beim ersten Mal fast an Geschichten von Daniil Charms erinnerten, klangen sie beim zweiten Mal eher wie Bulgakow – auch nicht schlecht.

Neues Deutschland

23.02.2013
STEFAN AMZOLL
Kein Klaviertiger

Jascha Nemzow spielte die »24 Prelúdes« von Vsevolod Zaderatsky im Konzerthaus

Der Pianist Jascha Nemzow spielte das weitgehend unbekannte, reichlich halbstündige Werk »24 Prelúdes« von Vsevolod Zaderatsky zu Beginn und wiederholte es am Ende des Abends im Otto-Saal. Dazwischen Gespräch, kommentierte Videoeinblendungen (Notenbilder, Fotos, geografische Karten etc.), das Publikum ist immer einbezogen. Dies ist die Struktur von »2 x hören« , einer der Reihen des Hauses, die der Konzerthausdramaturg Arno Lücker entworfen hat und, wie es scheint, erfolgreich umsetzt. Wasserprivatisierung

Den Programmzettel erhält der Hörer erst nach beendeter Veranstaltung. Die Musik, die Bilder und Gespräche können so unvoreingenommen erlebt werden. Viele Leute kamen. Neben dem Pianisten wurde auch Vsevolod Zaderatskys Sohn, der genauso wie sein Vater heißt, herzlich begrüßt. Er wurde 1935 geboren und war Professor für Musikwissenschaft am Moskauer Konservatorium.

Jascha Nemzow indes betreibt zugleich Musikwissenschaft. Derzeit untersucht er, wichtig genug, noch unerschlossene Bereiche jüdischer Musik. 1963 in Magadan geboren, lebt der Pianist seit 1992 in Deutschland. 30 CDs spielte er bislang ein, darunter die »24 Prelúdes« von Schostakowitsch, deren Aufführung am 24. Mai 1933 Zaderatsky noch gehört haben könnte. Gewiss ist es nicht. Die eigenen »24 Prelúdes« weisen zwar stilistische Ähnlichkeiten auf – dergleichen war Zeitstil in den Zentren rund um den Globus – , doch offenkundige Anlehnungen oder gar Zitate aufzusuchen, dürfte vergeblich sein. Nemzow, freundlich, kommunikationsfreudig, wenn es sich ergibt, zu Pointen aufgelegt, ist freilich Könner seines Fachs. Der Pianist, aus bester russischer Klavierschule herkommend, ist das Gegenteil eines Klaviertigers. Sein Spiel ist besonnen, fast analytisch und zugleich energisch, kraftvoll, sofern die Noten es verlangen. Routine ? Mitnichten. Viel Geist ist zu investieren in meisterlich gearbeitete polyphone Musik. Äußerlicher Klavierismus macht sie lasch und langweilig. Und um Polyphonie handelt es sich. Zaderatskys Prelúdes sind fast durchweg kontrapunktisch angelegt.

Jascha Nemzow und Arno Lücker zeichneten die Biografie und das Profil des Komponisten. Kompositorisch hatte der Jüngling Glück. Zaderatsky, geboren 1891 in Riwne (heute Ukraine), durfte am Moskauer Konservatorium bei Sergej Tanejew, dem Meister der Polyphonie, Komposition studieren, daneben Klavier bei Heinrich Pachulski. Zu Diensten stand er als Musiklehrer ausgerechnet den Romanows, der kriegerischen Zarenfamilie (zur Zeit des Ersten Weltkriegs, in dem Zaderatsky für die Kaiserlich-Russische Armee kämpfte), der Baumeisterin und Verwalterin des russischen Völkergefängnisses. Sie wurde 1917 verjagt und erhielt 1918 durch Tod ihre gerechte Strafe. So wurde das auf der Veranstaltung natürlich nicht gesagt.

Der Komponist konnte sich glücklicherweise retten, schlug sich als Militär und Konterrevolutionär zu den Weißen, wurde von den revolutionären Roten gefasst, mit denen die Weißen genauso kurzen Prozess gemacht haben wie umgekehrt (auch das wurde so nicht gesagt), und erlitt darauf ein schlimmes Schicksal.

Gerüchten zufolge soll Felix Dserschinski, der irgendwo anerkennend Zaderatskys Klavierspiel vernommen haben soll, den Künstler vor dem Tode bewahrt haben. 1925 hatte Zaderatsky noch erste Erfolge als Pianist und wurde Mitglied der Assoziation für zeitgenössische Musik, später hatte er Gulagaufenthalte zu überstehen und erhielt fast durchgängig Aufführungsverbot. 1939 erfolgte die Entlassung aus dem Gulag. Keine Auskünfte erhielten die Hörer darüber, was der sowjetische Verteidigungskrieg ihm bescherte. Zaderatsky starb 1953 in Lwow. Nemzow meint, der Schöpfer der »24 Prelúdes« sei einer der bedeutendsten russischen Komponisten seiner Zeit. Nun, durch die Brille des Neoklassizismus gesehen, mag das teils zutreffen. Allein, die »24 Prelúdes« geben diese Etikettierung nicht her. Die meisten Teile wirkten brav, assoziieren, ja kopieren die verschiedensten Stile, Wendungen, Partikel renommierter Kollegen wie Chopin, Milhaud, Debussy, Mussorgski. Die Schlüsse, Dur- oder Moll-Akkorde oder auf einen einzelnen Ton, leugnen konsequent die Dissonanz. Das Stück »Heimat« , Jascha Nemzow spielte es als Zugabe, ist der reine Kitsch. Gleichwohl gab es viel Beifall für den instruktiven Abend.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

29.08.2009
KERSTIN HOLM

Der Pianist Jascha Nemtsov, Sohn eines GULag-Häftlings und im Lager geboren, holt ein verschollenes Werk nach dem anderen zurück ins Licht. Diesmal : die Preludes von Wsewolod Saderatzki

Russlands klassische Musik, die nach der Oktoberrevolution von einem kulturellen Erdrutsch begraben wurde, hinterließ kostbare Fossilien. Dass einige von der Nachwelt bewundert werden können, ein Menschenalter nach ihrer Entstehungszeit, ist das Verdienst passionierter Archäologen, in Deutschland vor allem des russisch-jüdischen Pianisten und Musikwissenschaftlers Jascha Nemtsov, der 1992 aus Petersburg emigrierte und in Stuttgart lebt. Nemtsov, selbst als Sohn eines ExGULag-Häftlings im fernöstlichen Verbannungsort Magadan geboren, hatte bereits vor Jahren eine CD-Serie « Across Bounderies – Discovering Russia » bei der Edition Abseits herausgebracht (F.A.Z. vom 1. Dezember 2000) und kürzlich drei weitere Alben mit Werken der verfolgten russisch-jüdischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg und Alexander Weprik eingespielt. Das neueste Album widmet er den vierundzwanzig Klavierpräludien von Wsewolod Saderatzki, einem Komponisten, der etwa zur gleichen Zeit wie Nemtsovs Vater in Magadan im Lager saß. Saderatzki, geboren 1891, lebte bis 1953. Er verbrachte sein Künstlerleben wie lebendig begraben, nie hat er seine Noten drucken oder Werke öffentlich aufführen dürfen.

Wie zum Maßstabsvergleich hat Nemtsov die vierundzwanzig Präludien von Saderatzki neben die des um ein Jahr älteren Dmitri Schostakowitsch von 1933 gestellt. Beide Klavierzyklen markieren jeweils für ihre Schöpfer eine klassizistisch neutonale Wende, nach einer Zeit des avantgardistischen Sturm und Drang. Doch während Schostakowitsch, ähnlich wie Picasso, aus einer hingeworfenen Formel eine ausladende, mal sarkastisch gehetzte, mal depressive Skizze entwickelt, bleibt Saderatzki, der beim « russischen Brahms » Sergej Tanejew studierte, auch als Künstler ganz Gentleman. Seine Präludien, die in der vielleicht glücklichsten Phase seines Lebens, in Moskau und in der Verbannung in Jaroslawl entstanden, nehmen den melodischen Duktus von Chopin oder Schumann auf – allerdings mit ins chromatische Nichts modulierender, funktionsloser Harmonik.

Gern kombinierte Saderatzki graziöse Schreitfiguren im tiefsten Bass mit nervöser Ostinato-Ornamentik im höchsten Diskant, als bändige er äußerste Erregung durch gute Haltung. Auch daran meint man, den weißen Bürgerkriegskämpfer zu erkennen, der als Student dem Thronfolger Alexej Musikunterricht gegeben hatte und möglicherweise deswegen auch später immer wieder das Ziel von Angriffen blieb. Umso ironischer, dass Felix Dserschinski, der Gründer der bolschewistischen Geheimpolizei, ihm das Leben rettete. Im Jahr 1920 geriet Saderatzki mit einer Gruppe von Offizieren in die Gefangenschaft der Roten. Man sperrte sie in ein Zimmer des Hauses, wo auch Dserschinski seinen Stab hatte. In diesem Zimmer stand ein Flügel.

Saderatzki, aufgewühlt, spielte die ganze Nacht. Am nächsten Morgen befahl Dserschinski, den Pianisten zu finden und freizulassen. Alle anderen Offiziere wurden erschossen.

Im Säuberungsjahr 1937 wurde Saderatzki abermals verhaftet, er kam nach Magadan. Die folgenden zwei Jahre im nordostsibirischen Lager überlebte der vielseitig gebildete Mann seiner Überzeugung nach nur, weil er abends fesselnd erzählen konnte. Zum Lohn brauchte er oft nicht zum Holzfällen auszurücken, bekam aber doch seine Essensration. In dieser Zeit entstand sein Hauptwerk, der monumentale Zyklus mit Präludien und Fugen, von denen bisher nur die russische Plattenfirma « Klassika-XXI » die ersten beiden Gruppen vorgelegt hat, auf einer Sammel-CD mit Musik verfolgter russischer und deutscher Komponisten. Saderatzki schuf diese Stücke, in denen er fragile musikalische Gedanken zu mächtigen Tongebäuden türmt, ohne Instrument – er schrieb sie, mangels Papier, auf Telegrafenformularen nieder.

Auf den ersten Alben der Serie hatte Nemtsov Kammermusik der verfolgten jüdischen Komponisten Weinberg und Weprik kombiniert mit Werken von Schostakowitsch, der beiden nahestand und sich mit ihrem Schicksal identifizierte. Mieczyslaw Weinberg war 1939 in die Sowjetunion geflohen, nachdem die Deutschen in Polen einmarschiert waren. Er verlor seine gesamte Familie im Holocaust. Den dreizehn Jahre älteren Schostakowitsch, mit dem ihn seit 1943 eine Freundschaft verband, betrachtete er als Lehrer, obwohl er nie bei ihm studiert hatte. 1945 entstand Weinbergs zugleich exaltiertes und formvollendetes Klaviertrio, darin er dem Klezmer-Idiom zu höchster kammermusikalischer Würde verhilft. Chromatisch improvisatorische Melodielinien und jazzig synkopische Rhythmen sind zu einem satztechnischen Webkunstwerk ausgestaltet, das dank Nemtsov und seinen Mitstreitern, dem Cellisten David Geringas und dem Geiger Dmitri Sitkovetsky, artikulationsscharf und mit schillerndem Nuancenspiel erstrahlt. Schostakowitsch hat bekannt, die jüdische Volksmusik entspreche seiner Vorstellung, wie Musik sein solle : Sie enthalte eine fröhliche Schicht und eine tragische Tiefenschicht und drücke Verzweiflung durch Tanzformen aus. In seinem zweiten Klaviertrio, das dem 1944 gestorbenen Musikwissenschaftler Sollertinski gewidmet ist, kleidete Schostakowitsch Trauer in jüdische Klänge – und weitet sie zugleich zur Universalsprache. Die lapidaren, zugleich ausladenden Gedanken und die konstruktive Wucht dieser Musik verraten schon im schlanken Trio die Krypto-Symphonie. Schostakowitsch schickt dem untröstlichen Largosatz ein bitter burleskes Finale hinterher, als stehe er auch im tiefsten Leid neben sich.

Als Stalin in seinem Todesjahr 1953 noch eine Repressionswelle gegen jüdische Intellektuelle startete, wurde auch Weinberg verhaftet. Aus Angst vor Folter gab er zu Protokoll, er habe die Gründung einer jüdischen Republik auf der Krim propagiert, wo er, gemeinsam mit einer konspirativen Komponistengruppe, ein jüdisches Konservatorium habe gründen wollen. Nachdem Stalin im März gestorben war, kam Weinberg wieder frei. Unter denen, die er im Verhör genannt hatte, war auch Alexander Weprik gewesen, der schon 1950 verhaftet und gefoltert worden war. Die hier eingespielten drei Volkstänze von Weprik stammen freilich aus den zwanziger Jahren, als der renommierte Komponist noch viel in Berlin aufgeführt wurde. 1932 schrieb er dann die schreckensstarre Kantate « Stalinstan », die in der erwähnten russischen Klassika-XXI-Edition zu hören ist. Vor den Säuberungen bewahrte ihn das nicht. Weprik verbrachte vier Jahre im Straflager.

Schostakowitsch, der sich mit beispielloser Kraft zum künstlerischen Gefäß der Schmerzen seiner Epoche machte, komponierte auch die eigene Todesangst. Eklatantes Beispiel hierfür ist die späte Sonate für Violine und Klavier, die Nemtsov im inspirierten Duett mit Kolja Blacher einspielte, wozu, in erhellendem Nebeneinander, zwei Weinberg-Sonaten aus dem Jahr 1947 kombiniert sind.

In der Musik Weinbergs bewahrt das tragisch beladene jüdische Melos stets seine Anmut. Schostakowitschs sprödes Werk hingegen vergegenwärtigt mit einer gravitationslos im Klangraum zerfallenden Zwölftonreihe Entropie : Klappernde Quarten, die bei punktierten Passagen höhnisch klingen, bilden wie ein Uhrpendel die sinnlose Zeit ab, vor der sich schon andere russische Komponisten fürchteten. Doch auch schon als Zwanzigjähriger schrieb Schostakowitsch mit seinen Klavier-Aphorismen musikalische Neurogramme, die eine kleine Formgeschichte der Angst enthalten. Sie sind in diesem Album eingerahmt von Klavierstücken für Kinder, wie sie der fast gleichaltrige Weinberg komponiert hatte : in unkindlicher Wehmut und doch im Kontrast zu jenen Räumen, wie sie die Schostakowitsch-Miniaturen aufreißen, in blinder Panik, im Haltsuchen an der Konvention und ihrer Überwindung durch den Witz.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

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